„NATO kriegsbereit gegen Russland“

Nach 10 Jahren Vorbereitung: NATO kriegsbereit gegen Russland

Ein Beitrag von Wolfgang Effenberger

Vor dem Hintergrund eines militärisch und wirtschaftlich noch angeschlagenen Russlands, eines militärisch noch etwas schwächeren Chinas und der noch relativ losen Gemeinschaft der BRICS-Staaten (das erste Treffen war 2009 in Jekaterinburg) entschlossen sich die USA im Herbst 2013 den im Jahr 2010 gewählten prorussischen Präsidenten der Ukraine Wiktor Janukowytsch zu stürzen und durch einen transatlantisch gefestigten Nachfolger zu ersetzen. 

Im Dezember 2013 bekannte die damals für Europa und Eurasien zuständige Staatssekretärin im US-Außenministerium Victoria Nuland („Fuck the EU“) – heute stellvertretende US-Außenministerin, dass die Vereinigten Staaten in den vergangenen Jahren 5 Milliarden US-Dollar in die „Demokratisierung“ der Ukraine ausgegeben habe(1).

Die Ukrainer bezahlten das ab Mitte Februar 2014 mit Toten auf dem Maidan-Platz(2) und in der Folge mit einem Bürgerkrieg gegen die Bewohner des Donbass, der vor allem seit dem 2. Mai 2014 mit dem ukrainischen Militär geführt wurde und bis 24. Februar 2022 annähernd 15.000 Menschen das Leben gekostet haben soll(3). Das Redaktionsnetzwerk Deutschland gab im Dezember 2021 an: „Seit 2014 dauert der Krieg … mehr als 13.000 Menschen wurden getötet“(4). Zwischen 2014 und Februar 2022 rüstete der Westen die Ukraine massiv auf. Es flossen rund 5,5 Milliarden Dollar im Rahmen des Finanzprogramms „Ukraine Security Assistance Initiative“.(5)

Die Umsetzung des Minsker-Friedensplans war zu keinem Zeitpunkt ernsthaft gewollt (siehe Interview mit der Altbundeskanzlerin Angelika Merkel am 7. Dezember 2022 in der Wochenzeitung DIE ZEIT). Kein Wunder, spielte doch die Geopolitik der Briten bereits vor dem Ersten Weltkrieg ebenso wie in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Schlüsselrolle. Um heute den angloamerikanischen Alptraum einer engen deutsch-russischen Zusammenarbeit zu verhindern, muss die Konfrontation mit Russland weiter bestehen bleiben. 

Am 4. Februar 2015 beleuchtete der Gründer und Vorsitzende des führenden privaten US-amerikanischen Think Tanks „STRATFOR“ (Abkürzung für „Strategic Forecasting Inc.“) George Friedman vor dem „Chicago Council on Global Affairs“ diesen Zusammenhang in einer für die Europäer erschütternden Offenheit.(6) Er legte freimütig die strategischen Ziele der USA in Europa auf den Tisch und machte gleich am Anfang deutlich, dass die USA keine „Beziehungen“ mit Europa (als „Union“) haben. Es gäbe nur bilaterale Zusammenarbeit mit den jeweiligen europäischen Staaten.

Seit mehr als 100 Jahren soll eine strategische deutsch-russische Kooperation mit allen Mitteln verhindert werden: Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland… Seit einem Jahrhundert ist es für die Vereinigten Staaten das Hauptziel, die einzigartige Kombination zwischen deutschem Kapital und deutscher Technologie sowie russischen Rohstoff-Ressourcen und russischer Arbeitskraft zu verhindern.“(7)

Und seit 1871 ist einer Elite der angelsächsischen Länder jedes Mittel recht, um eine starke Mittelmacht in Europa zu verhindern. Die Instrumente hierzu sind: Wirtschafts- und Handelskriege, Intrigen, gezielte Destabilisierungsmaßnahmen und Anschläge.

Am 26. September 2022 wurden die von Russland nach Deutschland führenden und auf dem Grund der Ostsee liegenden Gas-Pipeline-Stränge (Nord Stream 1 und 2) von Explosionen zerrissen (am gleichen Tag wurde die von Norwegen nach Polen führende  BALTIC-Pipeline eröffnet). Die drei gleichzeitigen Sprengungen müssen als Terroranschlag bezeichnet werden, obwohl die westlichen Leitmedien das Ganze als „Leckage“ (unkontrolliertes Ausströmen von Gas) herunterspielten.

Als der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Enthüllungsjournalist Seymour Hersh nachwies, dass die Nord-Stream-Pipelines mit Wissen und Billigung von US-Präsident Joe Biden in die Luft gesprengt wurden, gab es interessanterweise keine russische Reaktion auf diesen Terrorakt gegen Gazprom, gegen Deutschland, gegen die EU und gegen eine Reihe von europäischen Unternehmen.(8) 

Der Schaden für den Industriestandort Deutschland ist auch heute noch nicht in seinem ganzen Umfang abzusehen.(9) 

Hinzu kommen die mit der Aufrüstung der Ukraine seit 2014 verbundenen „Hilfen“ und die seit dem 24. Februar 2022 dramatisch gestiegenen Transferleistungen für Rüstungsgüter sowie die Unterhaltskosten von 1 Million ukrainischen Flüchtlingen (darunter 190.000 wehrfähige Männer). Nicht zu vergessen der eigene Schaden durch die Sanktionen gegen Russland. Obwohl der völkerrechtswidrig durchgeführte Regime-Wechsel vom Westen orchestriert war, verhängte die EU mit der Verordnung 833/2014 und mit dem Beschluss 2014/512/GASP am 31. Juli 2014 erstmals Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die seit Beginn des Angriffs-krieges gegen die Ukraine ständig ausgeweitet wurden.(10)

Dank abwesender Diplomatie und fehlender Bereitschaft zu einer politischen Lösung besteht nun die Gefahr, dass sich Deutschland nicht nur vom bisherigen Wohlstand auf Dauer verabschiedet, sondern völlig im Chaos versinkt. 

Ab Februar 2024 probt die NATO in einer Reihe vernetzter Manöver den Krieg gegen Russland. Deutschland beteiligt sich unter anderem am Großmanöver „Quadriga“ 2024.(11) 

Allein die Wahl des Namens lässt aufhorchen. Der von vier Rössern gezogene Streitwagen wurde im alten Rom bei Wagenrennen und in Triumphzügen eingesetzt und später häufig in Bildern und Statuen abgebildet. Die Assoziation zum römischen Reich spricht Bände. 

Die mit scharfen Klingen an den Rädern versehenen Sensenstreitwagen oder Sichelwagen(12) der Perser waren gefürchtet, blieben jedoch gegen die disziplinierte Infanterie der Armee von Alexander dem Großen in der Schlacht von Gaugamela (331 v.Chr.) wirkungslos. 

Könnte die NATO ein gleiches Schicksal erleiden?

Die Kriegsvorbereitungen der NATO haben einen langen Vorlauf.

Am 19. Januar 2010 fand auf dem Wiesbadener Militärflugplatz der erste Spatenstich für das neue „Führungs- und Gefechtszentrum“ (Command and Battle Center) der US-Army in Europa (USACE, USAEUR) statt. 

Es ist als „Nervenzentrum“ der Einsatzplanung, -durchführung und -kommunikation der U.S. Army Europe geplant.(13) Hier melden sich heute die ukrainischen Generäle zum Rapport und zum anschließenden Briefing. 

Eine weitere Weichenstellung erfolgte Anfang 2014, als bei der Münchner Sicherheits-konferenz die Losung ausgegeben wurde, Deutschland müsse mehr militärische Verantwortung übernehmen. Bundespräsident Joachim Gauck forderte, Deutschland müsse seine bislang an den Tag gelegte ‚Kultur der (militärischen) Zurückhaltung‘ zugunsten einer offensiv ausgerichteten Außenpolitik ad acta legen. Die Fähigkeit und die Bereitschaft Deutschlands zur Teilnahme an Militärinterventionen sei zwingend erforderlich.(14)

Nahezu parallel dazu startete die Bundeswehr ihre „Agenda Rüstung“.

Kontinuierlich stieg der Rüstungshaushalt an: von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 50,4 Mrd. Euro (2022)). Im Fähigkeitsprofil der Deutschen Bundeswehr (2018) erfolgte die Zusage, der NATO bis 2027 eine und bis 2031 drei voll ausgestattete („kaltstartfähige“) Divisionen (mit jeweils rund 15-20.000 Soldat*innen) zur Verfügung zu stellen – ein Zeitplan, der 2022 sogar noch um zwei Jahre nach vorne verlegt wurde.(15

Noch vor der Aufnahme einer umfangreichen NATO-Manövertätigkeit in Osteuropa wurde der Infrastrukturausbau für den Krieg forciert. Ausgehend von den Häfen Rotterdam, Bremerhaven und Hamburg wurden die Eisenbahntrassen über Breslau nach Kiew ausgebaut.(16) 

Am 11. Dezember 2017 hat auf Drängen der USA eine Gruppe von 25 EU-Staaten den in Verträgen verankerten Mechanismus der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ erstmalig genutzt, um schrittweise 47 Projekte und Initiativen der engeren verteidigungs- und rüstungs-politischen Zusammenarbeit auf den Weg zu bringen und die nationalen Ressourcen und militärischen Kapazitäten dadurch besser zu nutzen (Begriff PESCO: Abkürzung für »Permanent Structured Cooperation«).(17) Unter anderem wurde die Tragfähigkeit der Brücken auf den geplanten Anmarschwegen Richtung Osten verstärkt.

Am 8. November 2021 wurde erstmals nach dem Ende des Kalten Krieges das 56. US-Artilleriekommando reaktiviert – ein Großverband der US Army mit Sitz im Ortsbezirk Mainz-Kastel der Stadt Wiesbaden, der einem Zwei-Sterne-General [Generalmajor Stephen Maranian] untersteht. Am 10. November 2021 berichtete die britische Zeitung ‚The Sun‘ unter dem Titel ‚Dark Eagle has landed‘ von einem zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg reaktivierten nuklearen ,mit (geplanten) Hyperschall-Langstreckenraketen vom Typ „Dark Eagle“ ausgerüsteten Verband der USA in Deutschland. 

Die Entscheidung zur Reaktivierung sei vor dem Hintergrund der wachsenden Besorgnis im Pentagon erfolgt, dass Russland der NATO und den USA bei der Entwicklung von Artillerieraketen mit großer Reichweite den Rang abgelaufen hat.(18

Generalmajor Stephen Maranian erklärte am 3. November 2021: „Die Reaktivierung des 56. Artilleriekommandos wird den US-Streitkräften in Europa und Afrika bedeutende Fähigkeiten für multi-domäne Operationen bieten“.(19)

Im NATO-Verständnis stellen Multi-Domain-Operationen einen entscheidenden Wandel im Vorgehen des Bündnisses dar. Es wird durch dieses transformative Konzept in die Lage versetzt, strategisch auf Ereignisse Einfluss zu nehmen, seine Bemühungen mit externen Akteuren zu synchronisieren und Gegner vor gewaltige Herausforderungen zu stellen. Nach eigenen Angaben besteht das oberste Ziel darin, „die Freiheit und die Sicherheit der umfangreichen Bevölkerung des Bündnisses zu gewährleisten.“(20)

Um diesem Auftrag gerecht zu werden, wird in Weilersbach neben dem US-Luftwaffen-stützpunkt Ramstein für fast eine Milliarde Euro auf einer Grundfläche von rund 600 mal 300 Metern (90.000 Quadratmeter) ein riesiges Hospital mit mehr als 4.000 Zimmern errichtet, davon 120 Untersuchungsräume und 9 OP-Säle.(21)

Sieben Monate nach dem Maidan-Putsch 2014 verabschiedeten die USA das Strategie-Papier TRADOC 525-3-1 „Win in a Complex World 2020-2040“ mit dem Auftrag an die Streitkräfte, sich auf den „Abbau der Bedrohung durch Russland und China“ vorzubereiten. Und schon im gleichen Monat (Strategie-Papier und Manöver brauchen entsprechende Vorlaufzeit) startete die NATO ungeachtet der Kämpfe ukrainischer Regierungstruppen und prorussischer Separatisten im Donbass im Westen der Ukraine in der Nähe der Großstadt Lwiw (Lemberg) mit 1.300 Soldaten aus 15 Ländern die elftägige Übung Schneller Dreizack (Rapid Trident) . 

Russland bezeichnete die NATO-Präsenz in der Ukraine als Provokation.

Unterdessen begannen mehrere NATO-Staaten nach Angaben des ukrainischen Verteidigungs-ministers Waleri Geletej mit Waffenlieferungen für die Regierungstruppen. „Der Prozess der Übergabe läuft“(22), sagte Geletej dem Fernsehsender 5. Kanal, der dem ukrainischen Unternehmer Petro Poroschenko gehört. Und der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin bestätigte Mitte September 2014 im Fernsehen Verhandlungen über Waffenlieferungen: „Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass es um mehr als fünf Länder geht. Es handelt sich um viele“(23), sagte Klimkin dem Kiewer Kanal Perwy Nationalny. 

Seitdem wurden die NATO-Manöver ständig ausgeweitet. Wiederholt wurde der Durchbruch durch die Suwalki-Lücke (Engstelle zwischen Kaliningrad und Weißrussland) und die Verlegung zunächst von US-Brigaden und später US-Divisionen (DEFENDER-Übungen) an die Ostflanke geübt.

In der Übung „Steadfast Defender“ wird die NATO von Anfang Februar bis Mai 2024 für einen möglichen Krieg mit Russland proben, schreibt die FAZ: „Bisher fanden NATO-Manöver in einer Fantasiewelt statt. Künftig üben Soldaten die Verteidigung gegen einen Angriff Russlands in einem realistischen Szenario. Im Frühjahr 2024 soll die Übung dagegen umso größer ausfallen: mit 40.000 Soldaten des Heeres, mehr als fünfzig Marineschiffen und mehreren Staffeln von Kampfflugzeugen.[…] Aber auf den Landkarten für die Manöver sind die Mitglieder der Allianz klar zu erkennen: Russland und Belarus in ihren realen Grenzen.“(24

Fünfmonatiges NATO-Großmanöver "Steadfast Defender"

Nach Angabe des Presse- und Informationszentrums des Heeres fasst die Bundeswehr unter „Quadriga 2024“ mehrere Großübungen in Deutschland und im Ausland zusammen und „verbindet diese mit Übungsvorhaben ihrer Verbündeten, und das über einen Zeitraum von fünf Monaten. Als deutscher Beitrag zur NATO-Großübung „Steadfast Defender 2024“ soll „Quadriga 2024“ zeigen, dass die Bundeswehr entschlossen und befähigt ist, entscheidend zur Verteidigung der NATO-Ostflanke beizutragen. … Zusätzlich liefert die Bundeswehr über den gesamten Zeitraum wertvolle Unterstützung und Schutz für die Streitkräfte der NATO-Partner, die ihre Truppe und ihr Material durch Deutschland verlegen.“(25) Ziel der Übung ist es, dass sich die Landstreitkräfte der Bundeswehr „gegen einen gleichwertigen Gegner im Kampf“ behaupten können. 

Manöverring um Russland

„Quadriga 2024“ besteht aus mehreren Teilübungen.

  1. Von Mitte bis Ende Februar 2024 wird die 1. Panzerdivision der Bundeswehr in dem „Grand Center“ genannten ersten Teil der Kriegsübung in Deutschland, Polen und Litauen trainieren. In die 1. Panzerdivision hatten Berlin und Den Haag erst im März 2023 die letzte niederländische Heeresbrigade eingegliedert.(26) 
  2. Von Mitte Februar bis Mitte März 2024 trainieren die Division „Schnelle Kräfte“ (ca. 18.000 deutsche und 2.300 niederländischen Angehörige) und die Gebirgsjägerbrigade 23 in der Teilübung „Grand North“ in Norwegen die Kriegsführung unter extremen Wetterbedingungen.(27) 
  3. Von Ende April bis Ende Mai 2024 werden deutsche Fallschirmjäger der Division Schnelle Kräfte „die schnelle Verlegung und den Einsatz“ in Ungarn und Rumänien proben. 
  4. Als „Höhepunkt“ von Quadriga 2024 gilt laut Angaben der Bundeswehr die Teilübung „Grand Quadriga“ im Mai. Dabei trainiert die 10. Panzerdivision „die Verlegung und den geschlossenen mechanisierten Einsatz mit Kampf- und Schützenpanzern“ in Litauen.(28)

„Quadriga 2024“ ist in ein sogenanntes Übungscluster eingeflochten – ein Netz ineinandergreifender Manöver, das sich zeitlich über fünf Monate und räumlich von Norwegen bis nach Rumänien entlang der gesamten russischen Westgrenze erstreckt.(29) 

Von der ersten Teilübung „Grand Center“ werden deutsche Soldaten weiterziehen, um an dem polnischen Manöver „Dragon“ und an der US-amerikanischen Übung „Saber Strike“ teilzunehmen(30). „Grand North“ wird übergehen in das Manöver „Nordic Response“, „Grand South“ in „Swift Response“. Mit diesem Cluster simuliert die NATO ein „Schlachtfeld-Netzwerk“(31)  entlang der russischen Westgrenze. Die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Manöver und die Staffelung der eingesetzten Truppen erschweren eine realistische Einschätzung des tatsächlichen Ausmaßes des Aufmarschs.

In diesem bisher einmaligen Manöverkomplex verwendet die NATO nach eigenen Angaben zum ersten Mal echte geografische Daten aus Osteuropa, um ihren Truppen „ein realistischeres Szenario“ vom potenziellen zukünftigen Einsatzgebiet zu bieten. NATO-Mitarbeiter äußerten gegenüber der US-amerikanischen Presse, mit dem Manöver wolle das Kriegsbündnis Moskau zeigen, dass es „bereit“ sei „zu kämpfen“.(32)

Mit „Quadriga 2024“ will Deutschland seinen Anspruch unterstreichen, eine „riesige Drehschreibe“ für die „Truppenaufmärsche“ des NATO-Blocks an seiner Ostflanke zu sein. Damit demonstriere die Bundesrepublik ihre „Leistungsfähigkeit“ als NATO-Partner und übernehme „Führungsverantwortung“, heißt es.(33) Während sich das politische Berlin von der Funktion als Drehscheibe und logistische Schaltzentrale für die transatlantischen Truppenbewegungen in Richtung Ukraine und Russland einen Bedeutungszuwachs innerhalb der NATO erhofft, könnte sich diese Kriegspolitik im Falle eines Konflikts für Deutschland und seine Bewohner als Katastrophe erweisen. Die Bilder aus der Ukraine und aus Gaza sollten nachdenklich machen. 

Der politische Korrespondent in der Parlamentsredaktion der Süddeutschen Zeitung in Berlin, Georg Ismar, hat einen anderen Blick auf diese Kette von Manövern. Er schrieb am 14. November 2023: „Bei der Vorbereitung eines großen Manövers im kommenden Jahr stößt die Bundeswehr auf ungeahnte Komplikationen, von fehlenden Lkw-Fahrern bis hin zu maroden Brücken. Das Land muss tatsächlich erst wieder tauglich gemacht werden für einen möglichen Kriegsfall“(34). LKW-Fahrer dürften durchaus fehlen, aber die meisten Brücken auf den künftigen Rollbahnen sind dank PESCO optimal vorbereitet. Die Forderung Ismars, dass das Land tatsächlich erst wieder für einen möglichen Kriegsfall tauglich gemacht werden muss, entspricht der Forderung des Verteidigungsministers Pistorius, Deutschland soll „kriegstüchtig“ werden.(35) 

Das alles in einer Phase, in der die Kampfkraft der ukrainischen Streitkräfte im Abnehmen begriffen ist und die ukrainische Armee mit der Rekrutierung Probleme hat (Rund 190.000 Ukrainer im wehrfähigen Alter leben offiziell in Deutschland).(36) Sollte die Verteidigung der Ukraine zu bröckeln beginnen, und die Priorität des Westens darin liegen, Russland zu einem nicht annehmbaren Waffenstillstand zu zwingen, wird der jetzige Stellvertreterkrieg zum umfassenden Krieg USA/EU/NATO gegen Russland.

Mit seiner Rede am 19. Dezember 2023 auf der Sitzung des Vorstands des russischen Verteidigungsministeriums verströmte Putin Aufbruchsstimmung: „Die russische Wirtschaft hat nicht nur ihren Schwung von vor 2022 wiedererlangt, sondern beschleunigt sich bis zum Jahresende auf eine Wachstumsrate von 3,5 %, die durch steigende Einkommen und Kaufkraft für Millionen von Bürgern sowie eine Erhöhung des Lebensstandards gekennzeichnet ist. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem historischen Tiefstand, und Russland hat die westlichen Sanktionen und die Versuche, es auf der internationalen Bühne zu isolieren, zurück-geschlagen.“(37)

Putin zeigte sich entschlossen, die „riesigen historischen Gebiete, russische Gebiete, zusammen mit der Bevölkerung“ zurückzufordern, die die Bolschewiki während der Sowjet-Ära an die Ukraine abgetreten hatten. Weiter machte Putin einen wichtigen Unterschied in Bezug auf die „westlichen Gebiete“ der Ukraine (westlich des Dnjepr), die ein Erbe des Zweiten Weltkriegs seien und auf die Polen, Ungarn und Rumänien Gebietsansprüche erheben könnten, was zumindest im Fall Polens auch mit der Abtretung der „östlichen deutschen Gebiete, des Danziger Korridors und Danzigs selbst“ nach der Niederlage des Dritten Reichs zusammenhängt. 

Die Quintessenz formulierte Putin wie folgt: „Die Geschichte wird alles an seinen Platz setzen. Wir (Moskau) werden uns nicht einmischen, aber wir werden auch nicht aufgeben, was uns gehört. Jeder sollte sich dessen bewusst sein  – diejenigen in der Ukraine, die Russland gegenüber aggressiv eingestellt sind, und in Europa und in den Vereinigten Staaten. Wenn sie verhandeln wollen, sollen sie das tun. Aber wir werden es nur auf der Grundlage unserer Interessen tun.“(38)

Unverkennbar brechen überall die aus dem 1. Weltkrieg herrührenden Verwerfungslinien auf – Balkan, Ukraine, Nordafrika, Nah- und Mittel-Ost …. Das aus dieser Zeit herrührende Unrecht wurde bis heute nicht aufgearbeitet. Die heutigen Konflikte können nur unter Einbindung dieses Hintergrunds gelöst werden. 

So formulierte der Westasien-Analyst Alastair Crooke treffend: „Sykes-Picot ist tot.“(39) Dieses Geheimabkommen von 1916 hatte den Nahen Osten willkürlich zerstückelt und den weiteren Verlauf des 1. Weltkriegs entscheidend beeinflusst.(40) Auch im westlichen Afrika regt sich der Widerstand gegen die Ausplünderung durch die ehemaligen Kolonialherren.(41)

Obwohl Putin an der Front keine spektakulären Erfolge vorweisen kann, hat er sich in Moskau innen- wie außenpolitisch auch unter größtem Druck behauptet – an seiner Wiederwahl als russischer Präsident bestehen kaum Zweifel, im Präsidenten der neuen Weltmacht China hat er einen Verbündeten und in den Ländern des globalen Südens Unterstützer. So können sowohl Russland als auch China gelassen zusehen, wie sich die USA mit ihrer Unterstützung des israelischen Krieges in Gaza weltweit isolieren.

Nach über drei Monaten erbarmungslosem Bombardement und verlustreichem Bodenkrieg ist die Hamas noch immer nicht bezwungen. Auch in Nahost könnte der Konflikt noch weiter eskalieren, sollten der Libanon und der Iran nicht nur verdeckt, sondern offen in den Konflikt einbezogen werden. Schon sammeln die USA einige Verbündete für ein Vorgehen gegen rebellische Jemeniten, die den Schiffsverkehr zum Suezkanal gefährden(42) –

Nun, die jemenitische Widerstandsbewegung Ansarallah fängt jedes mit Israel verbundene oder für Israel bestimmte Schiff ab. Die israelische Wirtschaft soll getroffen werden. Ein einziger jemenitischer Schachzug erweist sich als effizienter als eine Flut von imperialen Sanktionen.

Alle anderen Schiffe können frei passieren. Russische Tanker – ebenso wie chinesische, iranische und Schiffe aus dem Globalen Süden – können weiterhin ungestört durch den Bab al-Mandeb (engste Stelle: 33 km) und das Rote Meer fahren. Dieser einzelne Schritt könnte zu einem unumkehrbaren Paradigmenwechsel führen. Die USA sehen sich in ihrer „regelbasierten Ordnung“ herausgefordert. 

Dagegen hat der russische Präsident Wladimir Putin eine unmissverständliche Botschaft ausgesendet:

„Vergesst den Suezkanal. Der richtige Weg ist der Nördliche Seeweg“(43) – den die Chinesen im Rahmen der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China als Arktische Seiden-straße bezeichnen.

Für die verblüfften Europäer haben die Russen drei Möglichkeiten aufgezeigt: „Erstens, 15.000 Meilen um das Kap der Guten Hoffnung segeln. Zweitens: Nutzung der billigeren und schnelleren Nördlichen Seeroute Russlands. Drittens kann die Fracht über die russische Eisenbahn transportiert werden“(44). 

Die geopolitische Aktualität lässt nicht erkennen, dass 2024 die Schützengräben verlassen werden und an die Tische der Diplomaten zurückgekehrt wird. Die Gewichte werden sich weiter verschieben, und zwar höchstwahrscheinlich zugunsten der Länder des globalen Südens und der BRICS-Staaten.

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld“ in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm

„Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022)

Quellen und Anmerkungen

1)https://www.wsws.org/de/articles/2022/03/17/pers-m17.html

2)Im Februar 2014 setzte das Parlament in Kiew unter Teilnahme des rechen Sektors den gewählten Präsidenten verfassungswidrig ab und beschloss ein Gesetz zum Verbot der russischen Sprache.

3)Am 2. Mai 2014 48 Gegner des Putsches im Gewerkschaftshaus bei lebendigem Leib verbrannt, über 100 wurden ermordet, kein Täter wurde bestraft.

4)Zitiert wie https://www.freidenker.org/?p=15703

5)https://www.wienerzeitung.at/h/der-ukraine-droht-eine-hyperinflation

6)https://www.youtube.com/watch?v=fATq03kBs44

7)Wolfgang Effenberger S. 319 George Friedman am 4 Februar 2015 in Chicago unter https://www.youtube.com/watch?v=oaL5wCY99l8&feature=youtu.be; hier die gesamte Rede über 70 Minuten https://www.youtube.com/watch?v=QeLu_yyz3tc

8)https://new.thecradle.co/articles/how-yemen-changed-everything

9)Am 6. Oktober 2022 erschien von Wolfgang Effenberger bei APOLUT der Artikel „Unterwasseranschläge zum Schaden Deutschlands – Eine neue Stufe im Konflikt zwischen USA und Russland?“ Und am 1. März 2023 „Pulitzer-Preisträger: USA sprengten Nord-Stream-Pipelines“ unter http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=28509&css=print

10)https://www.wko.at/aussenwirtschaft/sanktionen-russland

11)https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9440 

12)Im römischen Reich wurde ein mit zwei Pferden bespannter Streitwagen Biga, einer mit drei Pferden Triga genannt. Ein Viergespann wird Quadriga genannt. 

13)https://www.flickr.com/photos/europedistrict/4292925054

14)https://www.imi-online.de/2015/01/31/deutschlands-neue-grossmachtambitionen/

15)https://www.imi-online.de/2022/08/16/divisionen-im-eiltempo-2025-2027/

16)Die Bahntrasse der NATO ist per Dokument von DB Netz AG vom 30.01.2014  geplant und in Auftrag gegeben worden. Fertiggestellt und übergeben von H. Pofalla am 5. Dezember 2018

17)https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/177284/staendige-strukturierte-zusammenarbeit/

18)DARK EAGLE HAS LANDED – US to arm nuclear unit in Germany with 4,000mph ‘Dark Eagle’ hypersonic missiles to ‘blitz Moscow in 21 MINS’
Niamh Cavanagh, „The Sun“, 10.11.2021
https://www.thesun.co.uk/news/16695568/us-nuclear-germany-eagle-hypersonic-missiles-moscow/

19)Kalter Krieg Reloaded – US-Raketen bedrohen von Deutschland aus Moskau
Wolfgang Effenberger, NRhZ 782, 08.12.2021
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=27817

20)https://www.act.nato.int/article/mdo-in-nato-explained

21)https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/kaiserslautern/baustelle-krankenhaus-weilerbach-ramstein-us-armee-100.html

22)https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-09/nato-manoever-ukraine-russland-waffenlieferungen

23)Ebda.

24)Zitiert wie https://www.imi-online.de/2023/09/18/steadfast-defender-grossmanoever/

25)https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5710100/06bec54e23856c511eb9f672a33c3fdd/quadriga-2024-flyer-data.pdf

26)https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9216 

27)https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5710100/06bec54e23856c511eb9f672a33c3fdd/quadriga-2024-flyer-data.pdf

28)https://www.bundeswehr.de/de/organisation/heer/aktuelles/heer-und-nato-partner-starten-2024-ein-grossmanoever-5710094

29)https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9440 

30)https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5710100/06bec54e23856c511eb9f672a33c3fdd/quadriga-2024-flyer-data.pdf

31)https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8279/

32)Nato to launch biggest military exercise since cold war. Financial Times 11.09.2023.

IMI-Aktuell 2023/577

33)https://www.bundeswehr.de/de/organisation/heer/aktuelles/heer-und-nato-partner-starten-2024-ein-grossmanoever-5710094

34)https://www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehr-nato-manoever-olaf-scholz-kalter-krieg-1.6303403?reduced=true

35)https://www.nzz.ch/international/pistorius-und-die-kriegstuechtigkeit-deutschland-muss-kaempfen-lernen-ld.1763792

36)https://www.welt.de/politik/deutschland/plus248593634/Flucht-statt-Kriegseinsatz-190-000-Ukrainer-im-wehrfaehigen-Alter-leben-in-Deutschland.html

37)https://www.indianpunchline.com/putin-lifts-the-fog-of-war-in-ukraine/

38)Ebda.

39)https://new.thecradle.co/articles/how-yemen-changed-everything40)

40)Wolfgang Effenberger: Geoimperialismus Die Zerstörung der Welt. Rottenburg 2016, Seiten 257-263

41)https://apolut.net/niger-erhebt-sich-gegen-den-wertewesten-von-wolfgang-effenberger/

42)https://www.pi-news.net/2023/12/verlierer-2023-i-der-westen/

43)https://new.thecradle.co/articles/how-yemen-changed-everything

44)Ebda.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Eckhard Frenzel

    Den Aussagen von Herrn Effenberger zur Haltung der NATO gegenüber ihrem erklärten Feind vor der Spezialoperation und gegenwärtig kann man nur zustimmen.

    Für die Kriegsgewinnler, ob aus der Rüstungsindustrie, Zulieferern oder Erdöl- und Gaskonzernen . und für ihre Marktschreier war die Spezialoperation auf jeden Fall ein gefundenes Fressen. Und das bleibt auf unabsehbare Zeit weiter so – ohne Rücksicht auf Verluste und auf das Risiko eines nicht mehr beherrschbaren großen Krieges.
    Dies zeigt jetzt auch nochmals das Manöver „Quadriga 2024“.
    Die USA und ihre Vasallen in der NATO haben ihre Aggressivität bei der Durchsetzung ihrer Weltherrschaftsanspruchs oft genug bewiesen (Korea, Vietnam, Grenada, Panama, Kuba, Afghanistan, Libyen, Jugoslawien, Irak,heute Jemen) und nicht zuletzt bei der Kolonialisierung der Ukraine.

    Einige Ergebnisse der letzten 2 Jahre:
    Der Drang nach Osten erhielt wieder einen neuen Schub.
    Die NATO hat 2 weitere neue Mitglieder bekommen. Georgien und Moldawien haben sich beworben. Die Ukraine gehört seit langem de facto dazu. Wenn die einfachen Ukrainer zu Zeiten Viktor Janukowytschs der NATO noch ablehnend gegenüber standen, hat sich die Stimmung mit Beginn der Spezialoperation gründlich geändert.

    Die NATO-Staaten konnten ihre alten Waffenbestände abstoßen und rüsten massiv um und auf.
    Die Sanktionen schaden allen Seiten, aber das Volk bezahlt ja dafür. Es ist zombiert genug, um die wahren Ursachen der Inflation und des Sozialabbaus nicht zur Kenntnis zu nehmen.

    Militärisch herrscht eine Pattsituation.
    Kein Oberkommando wird zulassen, dass die andere Seite gewinnt.
    Das Sterben geht täglich weiter; sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Die für die Zukunft entscheidende Generation löscht sich gegenseitig aus. Dem Westen sind die menschlichen Opfer in beiden Länder weitgehend egal. Geht es doch um das höhere Ziel Russland diesmal fertig zu machen.

    Auch wenn es heute fast utopisch klingt, eine Verständigung zwischen Russland und der Ukraine ist erreichbar, wenn die Menschen in beiden Ländern das wollen. Auch wenn es lange dauern wird, bis eine gute Nachbarschaft wieder erreicht wird.
    Die gemeinsame sowjetische Vergangenheit hatte bewiesen, dass der Begriff „Brudervölker“ keine Phrase war.
    Der Verfasser hatte das Glück unter sowjetischen Menschen – darunter viele Ukrainer- und auch im neuen Russland Jahrzehnte zu leben und zu arbeiten.. Er konnte sich von der Ausdauer, Selbstlosigkeit, Kameradschaft, dem Erfindungsgeist seiner Kollegen und Freunde überzeugen.
    Auch im heutigen postsowjetischen Russland gab es und gibt es im Zusammenleben keinerlei Hass zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Diese sowjetische Errungenschaft, hervorgegangen aus Öktoberrevolution; Industrialisierung, Großem Vaterländischem Krieg, Wiederaufbau, leninscher Nationalitätenpolitik hat bisher dem neu eingeführtem Kapitalismus weitgehend widerstanden. Aber sie ist gefährdet.

    Auch wir bekommen die Folgen der „Teilhabe“ der BRD (an zweiter Stelle hinter den USA am Krieg gegen Russland) zunehmend zu spüren. Es ist eine nationale Schande, dass die deutsche Regierung nichts aus der Geschichte gelernt hat,
    Sie meint, es diesmal an der Seite der USA und der NATO zu schaffen.

    Gerade der „Verein der Freunde Russlands“ sollte sich verstärkt für einen Waffenstillstand, für Verhandlungen und gegen Waffenlieferungen einsetzen.

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